Einladungskarte zur Ausstellung «Galerie am Wasserturm», Konstanz, 1993
Einladungskarte zur Ausstellung «Galerie am Wasserturm», Konstanz, 1993

 

Überlegungen zu den Objekten Anja Hoinkas

 

Anja Hoinka beschäftigt sich mit Außen- und Zwischenräumen, die sich aus der Form von Architektur oder Gebrauchs–gegenständen ergeben und mit der Frage, wie sie diese Räume sichtbar machen kann.
Es entstehen Modelle von architektonischen Details, von Innenräumen, von Möbeln. Einige der Modelle stehen auf Sockeln, die größeren auf dem Boden. Der Begriff Modell bedeutet für Anja Hoinka die Formulierung einer Möglichkeit und weniger eine maßstabgerechte Vorlage für eine größere Umsetzung. Trotz des realen Bezuges bleibt das Modell Fiktion.

 

Ein Stuhl steht auf einem Podest. Der Stuhl ist zusammengesetzt aus Flächen geschnittenen Kartons. Die äußere Form bestimmt ein inneres Volumen, den Raum, der zwischen Sitzfläche, Stuhlbeinen und dem Boden entsteht. Diesen Raum thematisiert Anja Hoinka, indem sie den leeren Raum unter dem Stuhl, der durch die Form des Stuhls gebildet wird, als eigenständige Form begreift und ebenfalls mit Karton nachbildet. Ein Zwischenraum wird zu einem eigenen Anschauungsobjekt. Anja Hoinka löst die Konturlinie vom Objekt und tritt in den Bereich zwischen dem Objekt und dem umgebenden Raum. Dieser Grenzbereich existiert nur in der Wahrnehmung. Man kann dies als die imaginäre Grenze des Umraumes bezeichnen. Es entsteht eine Dynamik von Anziehung und Loslösung.

 

Anja Hoinkas Modelle beschreiben. Sie beschreiben einen Raum, der um den Dingen liegt. Sie wählt einfache und bekannte Gegenstände, um das Gewicht nicht auf den Inhalt der Dinge, sondern auf deren Form zu legen. Dies wird durch die Verwendung der unbehandelten Pappe, einem ebenso schlichten wie zurückhaltenden Material, unterstützt.

 

Ausgehend von der Beschäftigung mit architektonischen Details oder Möbeln erforscht Anja Hoinka deren Verhältnis von Innen- und Außenraum, Positiv- und Negativformen und der Wahrnehmung in ihrem räumlichen Zusammenhang. Sie beobachtet dafür Konturlinien, Flächen, Hohl- und Zwischenräume.
Die Gegenstände aus ihrem Umfeld bilden die Anregung für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema des Raumes. Auch Beziehungen zwischen verschiedenen Formen spielen eine Rolle. So kann sich um Tisch und Stuhl ein neuer Raum bilden, der auf den ersten Blick wie ein Zimmer wirkt, doch sind Tisch und Stuhl von dem sie umgebenden Raum eingespannt, nicht mehr beweglich. Eine alltägliche Situation wird beobachtet und auf seinen „Umraum“ hin untersucht.

 

Die Modelle Anja Hoinkas bewegen sich zwischen Individualität und Neutralität. Die realen Maße der Dinge werden modifiziert, um deren Charakter klar hervortreten zu lassen. Es ist eine Abstraktion hin in Richtung auf einen Prototypen. Die Vereinfachung bewirkt eine Konzentration auf die Komplexität einer Form. Zugleich scheinen die Situationen privat
durch den spezifischen Blick Anja Hoinkas auf die Gegenstände. Doch ist dieser Blick unmittelbar nachvollziehbar. Es liegt keine geheimnisvolle Inhaltlichkeit in den Dingen. Zugleich entstehen aber bisweilen beinah traumatisch anmutende Situationen, so etwa durch die Enge der Verklammerung von Stuhl und Tisch.
So hat auch die Treppe zwei Seiten. Es ist ein Raum, von dem man weiß, den man aber nicht sieht. Auch bei Anja Hoinkas Modell sieht man die Rückseite der Treppe nicht, aber er wird zum Thema der Arbeit und durch seine Begrenzung nach außen sichtbar gemacht.

In früheren Objekten arbeitete die Künstlerin stärker mit der Einbeziehung des Betrachters. Er konnte Räume betreten, Türen öffnen und sich selbst zu diesem Raum in Beziehung setzen. Die Modelle hingegen entziehen sich diesem physischen Dialog. Bei ihnen geht es eher um den Blick. Im Vordergrund steht das formale Interesse an der Komplexität einer Form, an den möglichen Facetten eines einfachen Gegenstandes.

 

Matthia Löbke, 1993